TEMUS gefährliches Spielzeug

7.03.2024 | Deep Dive, Hintergrund

Haben Sie das auch schon einmal erlebt: Man kauft sich das supergünstige Schnäppchen von irgendeiner Online-Plattform – Schuhe für 12 Euro – und beim Öffnen der Packung treiben die Ausdünstungen einem die Tränen in die Augen? Nun, da sind Sie nicht der einzige.

Von Thomas Walter

Messe - das Messegebäude der Messe Nürnberg, in der auch die Deutsche Spielzeugmesse stattfindet

Der europäische Spielwarenverband Toy Industries of Europe (TIE) hat genau das ausprobiert. Nur hat er nicht irgendwelche Schnäppchen gekauft, sondern 19 Spielzeuge auf dem Online-Marktplatz TEMU erworben und überprüfen lassen. Das Ergebnis der Überprüfung wird so manchen mehr Tränen in die Augen treiben als der Weichmacher in den Schuhsohlen: Keines der Spielzeuge entsprach in vollem Umfang den EU-Vorschriften. 18 von ihnen stellten ein aktives Sicherheitsrisiko für Kinder dar.

Toy Industries of Europe (TIE) erwarb die Spielzeuge Ende 2023 auf dem 2022 gegründeten Online-Marktplatz TEMU. Von der Kinderrassel bis zum Schleimspielzeug. Keines davon entsprach den EU-Regeln.

 

Achtung: Ersticken, Strangulieren, Stichwunden und chemische Risiken

Die Gefahren, die von diesem Einkauf für Kinder drohen, sind erheblich. Die Baby-Rassel zum Beispiel entpuppte sich als regelrechtes Gefahren-Arsenal: scharfkantige Metallglöckchen, an denen man sich schneiden kann; verschluckbare Kleinteile, an den Kleinkinder ersticken können und starre Ausbuchtungen, die zu Blockaden oder Verstopfungen im Verdauungstrakt führen können. All das darf Spielzeug, das in der EU verkauft wird, nicht haben. Das gleiche gilt für das chemische Element Bor: In dem getesteten Schleimspielzeug lag der Gehalt 11-mal höher als der gesetzliche Grenzwert für Spielzeug. Außerdem wies nur eins der Spielzeuge eine EU-Adresse auf. Auch das ist Pflicht für jeden.

 

Kein Ausrutscher

Die Ergebnisse der Untersuchung decken sich den Ergebnissen einer TIE-Studie von 2020, bei der Spielzeuge von vier anderen Online-Marktplätzen gekauft wurde. Der Fehler liegt im System: die eigentlichen Anbieter haben ihren Sitz außerhalb der EU und können nicht für die Sicherheit ihrer Ware verantwortlich gemacht werden. Das führt zu einer Ungleichbehandlung. Auf der einen Seite sind die europäischen Hersteller, die immer strengere Auflagen zu erfüllen haben; auf der anderen dubiose Anbieter, die machen können, was sie wollen.

 

Lösung in Sicht?

Als Reaktion auf die TIE-Untersuchungsergebnisse dieser Testkäufe antwortete TEMU, dass man Maßnahmen ergriffen habe und die Spielzeuge nicht mehr auf der Plattform zu finden seien. Das ist löblich, aber nicht genug. Zum einen hätten diese Spielzeuge gar nicht auf der Plattform sein dürfen. Zum anderen kann man davon ausgehen, dass es unter den tausenden angebotenen Spielzeugen noch mehr potenziell tödliche Produkte gibt. TEMU scheint das Risiko zu kennen. Denn auf der Website findet sich im Footer ein Link, der erklärt, wie TEMU Kunden beim Kauf illegaler Produkte warnen möchte. Nach dem Kauf wohlgemerkt.

 

Schärfere Regeln

Dabei wäre es ganz einfach: TIE und der DSVI fordern Änderungen an den geltenden Gesetzen:

  1. Die in Überarbeitung befindliche Richtlinie über die Sicherheit von Spielzeug sollte die Regelungslücke schließen, die trotz des Gesetzes über Digitale Dienste und anderer Vorschriften für Verkäufer mit Sitz außerhalb der EU bestehen bleibt. Gibt es keinen in der EU ansässigen Wirtschaftsakteur, sollte der Online-Marktplatz, aus Sicht der Spielwarenindustrie, als Verantwortlicher für die Sicherheit des Spielzeugs gelten.
  2. Die Marktüberwachungsbehörden müssen einen Fokus auf die Durchsetzung der Vorschriften für diese Art von Einfuhren legen und mit den dafür erforderlichen Ressourcen aus­gestattet werden. Dies bedeutet, dass auch kleine Sendungen von geringem Wert kontrolliert werden, da diese Art von Paketen häufig den Kontrollen entgeht.
  3. Die nationalen Aufsichtsbehörden sollten verpflichtet werden, zu prüfen, wie sie die bestehenden Vorschriften besser anwenden können, um Websites zu sperren, die regelmäßig den Verkauf gefährlicher Spielzeuge ermöglichen.
  4. Eine ordnungsgemäße Durchsetzung der Bestimmungen aus dem Gesetz über Digitale Dienste zur Rückverfolgbarkeit von Händlern (KYBC) sollte Online-Plattformen verpflichten, zu überprüfen, ob die von den Händlern gemachten Angaben korrekt sind.

So reagiert die Branche

Deep Dive sprach mit führenden Herstellern darüber, wie sie mit der Situation umgehen und wie sie Maßnahmen zur Sicherheit von Spielzeug bewerten. Unsere Gesprächspartner waren Axel Kaldenhofen, GF von Schmidt Spiele (AK); Uwe Weiler, COO Simba Dickie Group (UW) und Rafaela Hartenstein, Senior Director of Government and Corporate Affairs EMEA & Asia bei Hasbro (RH).

Müsste die Branche die hohen Qualitätsstandards noch intensiver den Endkunden gegenüber kommunizieren? Sollte es da eventuell sogar eine große Verbandsinitiative geben?

AK, Schmidt Spiele: Bei Schmidt Spiele legen wir großen Wert darauf, unsere hohen Qualitätsansprüche, das Thema Produktsicherheit und unser Engagement auf beiden Gebieten transparent nach außen zu tragen. Die Kommunikation dieser Anforderungen ist ein wichtiger Schritt. Branchenübergreifend besteht hier sicherlich noch Potenzial, gemeinsam intensiver aufzuklären und aufzuzeigen, wie wichtig eine hohe Qualität und damit verbundene Sicherheit ist – schließlich geht es bei Spielwaren um Produkte, die in direkten Kontakt mit Kindern kommen.

UW / Simba Dickie: Als Spielwarenhersteller tragen wir große Verantwortung für die Sicherheit unserer Produkte. Daher durchlaufen alle Artikel unserer Sortimente eine Vielzahl strenger Qualitäts- und Sicherheitstests nach den Anforderungen der Europäischen Spielzeug Richtlinie 88/378/EWG sowie der Normenreihe EN 71. Dass diese strengen Regeln leider nicht für alle Anbieter von Spielwaren gelten und zum Beispiel für direkt aus Asien importierte Ware Onlinehändler nicht verantwortlich gemacht werden, wird Endverbrauchern oft erst im Schadensfall bewusst. Die Verbände DVSI und TIE haben durch bei TEMU getestete Ware die Öffentlichkeit bereits wachgerüttelt. 18 von 19 Produkten zeigten schwere Mängel.

RH / Hasbro: Spielzeug ist das am strengsten regulierte Konsumgut in Europa. Eigentlich sollten die Verbraucher in Europa also davon ausgehen können, dass das, was im Spielwarenhandel erhältlich ist, auch entsprechend sicher ist. Leider ist dieses Prinzip durch manche e-Commerce Plattformen aufgeweicht worden. Auf Plattformen wie Temu finden sich überwiegend Produkte, die nicht mit den geltenden Vorschriften konform sind und leider sehr oft ein Sicherheitsrisiko für die Verbraucher darstellen. Deshalb wäre es tatsächlich an der Zeit, die Verbraucher über dieses Problem aufzuklären. Sowohl der europäische Spielwarenverband TIE als auch der Deutsche Verband der Spielwarenindustrie kommunizieren dazu schon länger in Richtung der Verbraucher, beispielsweise über Webseiten oder Social Media Videos. Was es aber unbedingt darüber hinaus braucht, ist eine breit angelegte Aufklärungskampagne der Regierungen in Europa gerne auch gemeinsam mit der Industrie. Ganz alleine wird unsere Branche das nicht stemmen können.

 

Was geben Sie gemessen am Umsatz für die Einhaltung der längst bestehenden hohen Qualitätsvorschriften aus? Lohnt der hohe finanzielle Aufwand für die Qualitätssicherung noch, wenn chinesische Online-Händler konsequent diese Bestimmungen unterlaufen und keine europäische oder nationale Aufsichtsbehörde dem Einhalt gebietet?

AK / Schmidt Spiele: Für uns handelt es sich hierbei nicht um eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung. Es geht um unser Versprechen an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Darum, wofür wir als Unternehmen mit unseren Marken stehen und um die Verantwortung gegenüber der Umwelt und künftigen Generationen. Wir haben uns selbst strengere Richtlinien auferlegt, als sie vorgeschrieben sind, und werden hiervon nicht abweichen. Gleichzeitig ist es äußerst bedenklich, dass die Einhaltung von Vorschriften, auf die sich Konsumenten und Konsumentinnen sicherlich auch ein Stück weit verlassen, von den Behörden nicht gewährleistet wird.

UW / Simba Dickie: Wir investieren viel Zeit, Energie und Geld in die Qualität unserer Spielwaren – im Einkauf, bei der Entwicklung und in der Produktion. Zum Schutz unserer Kinder sollten die Behörden darauf achten, dass es keine Lücken für schwarze Schafe gibt.

RH / Hasbro: Alle reputablen Spielwarenhersteller betreiben einen hohen Aufwand, um die Sicherheit und Qualität von Spielzeug zu gewährleisten. Qualitätsmanagement und Testkosten machen schon jetzt einen beachtlichen Teil des Aufwands aus. Dieser Kostenblock wird nochmals signifikant steigen, sollten die überbordenden neuen Anforderungen, die im Rahmen der Überarbeitung der EU Spielzeugrichtline aktuell im Bereich der chemischen Prüfungen diskutiert werden, so umgesetzt werden. Neue Vorgaben erhöhen Produktkosten, ohne dass damit automatisch ein Mehr an Sicherheit verbunden wäre. Wenn nicht unterbunden wird, dass unsicheres Spielzeug unkontrolliert direkt an den Endverbraucher in Europa gelangt, wird der Wettbewerb noch mehr verzerrt. Kleinere Unternehmen können sich diesen Aufwand nicht mehr leisten, weil es für ihr Unternehmen nicht mehr wirtschaftlich ist. Die Online-Plattformen müssen als Wirtschaftsakteur genauso in die Pflicht genommen werden wie die Hersteller und die traditionellen Händler.

 

Stellen sich letztlich die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht selbst ein Armutszeugnis aus, wenn sie wider besseres Wissen den bei Temu angebotenen gefährlichen Billigkram kaufen?

AK / Schmidt Spiele: Die Kaufentscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucher wird durch zahlreiche Faktoren bestimmt und lässt sich daher auch nicht pauschal bewerten. Am Ende des Tages tragen Unternehmen, Behörden und Verbrauchende gemeinsam die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche fragwürdigen Anbieter hierzulande nicht Fuß fassen.

UW / Simba Dickie: Dass Verbraucherinnen und Verbraucher dennoch oft zugreifen, liegt an den unschlagbaren Preisen bei TEMU. Da rückt das Sicherheitsrisiko leider in den Hintergrund, die Verlockung ist zu groß. Laut Weltpostvertrag gilt China nach wie vor als Entwicklungsland und damit ist es den Anbietern zudem möglich, die Ware günstiger zu transportieren. Inzwischen sind daher sogar Engpässe im internationalen Luftfrachtverkehr zu verzeichnen.

RH: Die Frage ist zum einen, wie klar es dem normalen Verbraucher ist, dass solche Angebote nicht einfach ein Schnäppchen sind, sondern Preis und Qualität untrennbar zusammenhängen. Die Marketingmasche von Temu baut aber auch zeitlichen Druck auf, damit nicht lange überlegt wird – dort wird mit allen Mitteln gearbeitet, um möglichst viel in kurzer Zeit in den Warenkorb zu bringen. Verbraucher sind grundsätzlich preissensibel, das gilt in Deutschland manchmal noch mehr als in anderen Ländern. Steigende Kosten bei Mieten, Lebensmitteln und Co. sorgen zudem dafür, dass weniger Geld für Dinge wie Spielzeug bleibt. Und bevor man ganz darauf verzichtet, greift man eher zum Billigsten und blendet das Thema Sicherheit aus. Was oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass Qualitätsspielzeug nicht nur sicher ist, sondern auch eine lange Lebensdauer hat und kein Wegwerfprodukt ist – anders als das vermeintliche Online-Schnäppchen.