Brand Builder verspürt neues Lebensgefühl

9.09.2024

Nach einer mehrjährigen Odyssee gelang es dem Schweizer Spezialisten für den Aufbau und die Distribution von Markenspielwaren, der Carletto AG, ein neues Domizil am Vierwaldstätter See zu finden. Mit der neuen „Homebase“, die jetzt Administration und Logistik unter einem Dach vereint, sieht Peter W. Gygax sein Unternehmen für die Zukunft gut aufgestellt. Ulrich Texter traf den Vordenker in seiner New-Work-Arbeitswelt in Brunnen.
Planet Toys Gefühlt. Gekauft. Geschenkt.

Herr Gygax, Carletto gibt es 38 Jahre. Was hat sich in dieser Zeit im Markt geändert? Braucht es Carletto heute noch, weil viele Marken am liebsten alles selber machen möchten?

Peter W. Gygax: Ja, eine Marke kann vieles auch selber tun. Allerdings braucht es dafür den Marktzugang, eine bestimmte Größe, eine passende Infrastruktur sowie fundiertes Wissen über den Markt. Ich glaube, das ist genau das, was wir der Industrie bieten. Hinzu kommt unser Service, von der Logistik über das Marketing bis hin zum Verkauf. Wir übernehmen auch Produktadaptionen und spezielle Produktkonfigurationen für einzelne Märkte. Ich glaube, das ist das, was uns auszeichnet.

 

Der Umkehrschluss könnte lauten, viele Industriepartner besitzen wenig Ahnung vom Markt, oder?

P.W.G.: Das könnte man vielleicht so sagen, aber es ist zu einfach gedacht. Jedes Land hat seine Eigenheiten. Schweizer haben oft das Gefühl gehabt, den deutschen Markt zu durchschauen, aber er ist ein ganz anderer als der Schweizer, der italienische oder französische Markt. Für einen Hersteller ist es also sehr schwierig, Marktwissen aufzubauen.

 

Dem Großhandel wurde öfters das Ende prophezeit, gerade im Kontext der Digitalisierung. Sind Sie die 1. Adresse für Spielwarenhändler, die von den Big Playern nicht mehr aufgrund des zu geringen Umsatzes beliefert werden?

P.W.G.: Der Großhandel wird regelmäßig totgesagt, weil er ein klassischer Box-Mover ist. Carletto sieht sich aber definitiv nicht als Großhändler. Wenn wir einen Markt bearbeiten, dann nur exklusiv und den Gesamtmarkt. Kleine wie große Händler werden also von uns bedient, weil wir beides können. Das ist der große Unterschied. Zweitens entwickeln wir Marken in den relevanten Märkten, die vorher niemand kannte. Wir verstehen uns bewusst als Brand Builder. Wir sind auch keine Cherry Picker, die sich die fünf stärksten Artikel eines Lieferanten aussuchen. Der Kunde findet bei uns das komplette Spektrum, egal ob der Kunde groß oder klein ist. Großkunden können über unsere Niederlassung in Hongkong auch direkt FOB größere Lots in China direkt einkaufen.

 

Die Kehrseite dürfte sein, dass, wenn es Carletto gelungen ist, die Marke stark zu machen, die Marke sagt, Herr Gygax, jetzt übernehmen wir.

P.W.G.: Natürlich ist das eine Gefahr. Gelingt es uns nicht, eine Marke so zu entwickeln, wie sich das ein Hersteller vielleicht vorstellt, sucht er sich womöglich einen anderen Partner. Sind wir sehr erfolgreich, besteht das Risiko, dass der Hersteller es selbst in die Hand nehmen will. Die Vergangenheit zeigt allerdings, dass es nie funktioniert hat. Liegt Carletto zwischen diesen Polen, also eigentlich nicht so schlecht, aber noch nicht so, wie wir uns das selbst wünschen, sind wir wiederum von uns gelangweilt. Carletto lebt also immer mit dem Risiko, eine gut aufgebaute Marke verlieren zu können, auch durch Verkäufe oder Insolvenzen. Marken sind aufgegangen bei Big Playern, in die viel Arbeit und Schweiß reingeflossen ist. Aus diesem Grund ruht unser Portfolio auf den vier Säulen Arts & Crafts, Traditional Toys, Games & Puzzles und Dolls & Soft Toys.

 

Und was hat Sie geritten, sich mit der Game Factory ein Spielbein zuzulegen? War es Langeweile, von der Sie eben gesprochen haben?

P.W.G.: (lacht) Nein, Langeweile war es nicht, sondern eine Opportunität, für die wir sonst keine Lösung gefunden hätten. Die Schweizer Radiolegende François Mürner motivierte uns, das beliebte Radiospiel „Typisch Schweiz“ von ABC SRF 3 als Kartenspiel auf den Markt zu bringen. Dann haben wir gesagt, nennen wir den Verlag, in dem das Spiel erscheint, doch Game Factory, denn unter Carletto können wir es nicht, weil Carletto für B2B und nicht BTC steht. Das war 2008. Aus dem Spiel wurde ein Instant-Hit. Es ist immer noch eines der meistverkauften Spiele in der Schweiz. Und aus der anfänglichen Opportunität wurde zunächst ein Hobby, dann kam das Interesse an der Branche und schließlich wurde es ein echtes Geschäft, das wirklich viel Spaß bereitet. Heute liefert die stark wachsende Game Factory einen signifikanten Anteil am Gesamtumsatz, auch international. Sie hat die Rechte für viele Spiele weltweit. Das schafft einen ganz anderen Horizont.

 

Was hindert Sie, das fünfte Standbein weiter auszubauen?

P.W.G.: Gar nichts, da sind wir schon dran. Allerdings werden wir keine weiteren Marken aufbauen. Mit den bestehenden Marken haben wir noch relativ viel zu tun. Unsere Strategie ist es, Lücken zu füllen, denn es ergibt wenig Sinn, Dinge, die wir schon vertreiben, neu zu interpretieren.

 

Wir kommen auf unsere Eingangsfrage zurück. Was hat sich in 38 Jahren verändert?

P.W.G.: Was sich wirklich gravierend geändert hat, ist, dass der Handel globaler geworden ist. Die Grenzen verschwinden, die Schweiz wird immer stärker in den Wirtschaftsraum EU eingebettet. Mit dem globalen Handel musste sich auch Carletto globaler bewegen. 2008 entwickelten wir die Idee, Carletto Deutschland aufzubauen. Auch das nicht aus Langeweile oder Größenwahn, sondern als Notwendigkeit, unsere Zukunft zu sichern.

 

Und das Internet dürfte dieser Entwicklung zusätzlich Dynamik verliehen haben.

P.W.G.: Ja, es war auch unsere Überzeugung, dass E-Commerce noch viel, viel stärker unsere Märkte und Grenzen aufweichen wird als alles, was wir bisher kannten. Wenn wir einen Distributor nehmen, der nur in der Schweiz arbeitet, dürfte der vielleicht einen Zugang zum Markt mit 60 % Abdeckung haben, Tendenz schwindend. Die anderen 40 % kommen, ob er das will oder nicht, von der Vedes, Thalia, Fnac, den Orchestras, King Jouets, Müllers, Lidls und Aldis dieser Welt, egal ob er die Generalvertretung hat oder nicht. Die Frage war also, wie kann Carletto dann noch überleben?

 

Und wie ist es gelungen?

P.W.G.: Weil wir eben mehr sind als ein klassischer Distributeur. Ein Aspekt kommt noch hinzu. Das Tempo hat sich fundamental geändert. Die Digitalisierung hat vieles vereinfacht. Die Kehrseite ist allerdings die enorme Geschwindigkeit.

 

Apropos Geschwindigkeit, der Deutschland-Chef von Amazon sprach davon, dass man Same Day Delivery immer näher komme. Wie weit ist Carletto?

P.W.G.: Same Day Delivery wird sehr schwierig, außer der Kunde sitzt gerade neben uns und kann sich die Ware abholen. 24 Stunden schaffen wir in der Regel, wenn der Kunde bis 12:00 Uhr bei uns bestellt hat. Ob diese Logistikgeschwindigkeit allerdings auch immer zielführend ist in einer Welt, in der wir über Nachhaltigkeit und Emissionen sprechen, wage ich zu bezweifeln.

 

Der Schweizer Markt war 2023 um 5 % rückläufig. Er liegt aber noch über dem Wert von 2019. Wie lauten Ihre Erwartungen für das laufende Jahr?

P.W.G.: Grundsätzlich sind wir vorsichtig optimistisch. Das Jahr gestaltet sich stark über die Produkte, die wir im Vertrieb oder die wir selbst entwickelt haben. Da bin ich sehr zuversichtlich, dass wir einen guten Riecher hatten und die richtigen Produkte für die Zeit, die da kommt, ausgesucht haben. Für 2024 gibt es, je nach Markt, unterschiedliche Prognosen. In der Schweiz fehlt uns sicher, wie allen anderen Schweizer Distributoren und Industriepartnern, Franz Karl Weber. Weber ist in Müller aufgegangen. Es muss sich zeigen, wie stark sich Müller auf den Schweizer Markt einstellt.

 

Was zeichnet Ihr Portfolio aus? Was sind die Stärken, auch markenübergreifend?

P.W.G.: Die Stärke des Portfolios ist sicherlich die Vielfalt und die Orientierung auf das Analoge. Anders gesagt: Carletto steht für klassische traditionelle Werte mit einem gewissen Pfiff. Natürlich erfinden auch wir das Rad nicht neu, aber das Rad sieht bei uns einfach immer schöner und attraktiver aus. Hinzu kommt unser hoher Qualitätsanspruch. Bei den Spielen ist es definitiv der Wiederspielreiz. Bei Arts & Crafts wird alles auf Herz und Nieren geprüft. Wir verkaufen nichts, was nicht einmal von uns durchgebastelt worden ist. Das ist der Anspruch, den wir haben. Und wir bringen nichts auf den Markt, nur weil es im Trend liegt, aber unseren Ansprüchen nicht entspricht, sondern wir wägen ab. Vermutlich sind wir da bei bisschen konservativ aufgestellt, aber der Kunde weiß, wenn er von uns beliefert wird, dass die Produkte Hand und Fuß haben.

 

Das Klagen des Detailhandels ist so alt wie der Detailhandel selbst. Die VEDES monierte unlängst die wenig partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Lieferanten, die immer stärker in die Direktvermarktung einsteigen. Die Margen seien zu gering, die Preise mitunter im Keller. Leidet auch Carletto unter dem „Anything goes“

P.W.G.: (schmunzelt) Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, aber es stimmt, das partnerschaftliche Verhältnis gerät immer stärker unter Druck. Jemand, der B2B macht, hat das Gefühl, er kann jetzt auch B2C, und umgekehrt. Es gibt eine erodierende Geschäftsethik, jede Opportunität zählt, der Umsatz ist das Einzige, was heilig ist. Und für den Umsatz tun Menschen oft alles. Für uns funktioniert das allerdings nicht. Wir haben unsere Rolle gefunden und unser Leitbild nicht verändert.

 

Tangiert es Sie aber?

P.W.G.: Das tangiert uns schon, aber „Anything goes“ heißt ja nicht „You can do anything“. Das Wissen über den Markt und das Können, ihn zu bearbeiten, stehen auf einem ganz anderen Blatt. Ich glaube, man muss genau wissen, für was man steht und das muss man auch gut können. Ehrlicherweise muss ich auch sagen, traue ich es der Branche einfach nicht zu, dass jeder alles kann. Entweder ist man Partner des Handels, damit meine ich allerdings nicht nur den Fachhandel, oder ich sage, ich brauche euch alle nicht, weil ich es direkt mache. Dass der Handel mit diesen Lieferanten wenig anfangen kann, ist offensichtlich.

 

Wie viele Kunden bedient Ihr Unternehmen?

P.W.G.: Carletto ist natürlich sehr breit aufgestellt. Wir bedienen insgesamt um die 13 verschiedene Vertriebskanäle. Darunter findet sich der klassische Spielwarenfachhandel, der kontinuierlich abnimmt, allerdings nicht, weil das Geschäft nicht mehr wirtschaftlich ist, sondern meistens aufgrund von Nachfolgeproblemen. Dann haben wir Fachspezialisten, sei es im Bereich Kreativ oder Spiele, Travel Retail, das Segment der Hotellerie, Apotheken, Pharmazien, Drogerien und Buchhandlungen. E-Commerce-Kunden bis hin zu Zoos und Museen und dem Lebensmittel-Einzelhandel zählen ebenfalls zu unseren Kunden. Das ist eine sehr breite und gute Basis. Das Warenhaus muss sich aktuell neu erfinden. Wir können, glaube ich, die meisten Disziplinen sehr gut.

 

Wenn ein Unternehmen umzieht, will es einiges neu machen. Prozesse optimieren z. B., die Arbeit effizienter gestalten, die Kosten senken. Was kann Carletto jetzt besser nach diesem Umzug, auch im Hinblick auf die Kunden?

P.W.G.: Für den Umzug mussten wir die gesamten IT-Landschaften und digitalen Prozesse komplett ändern. Aufgrund der Möglichkeiten, die wir mit dem Hochregallager und der Robotik hier am Standort haben, konnten wir die Prozesse ganz anders definieren. Das führte auf der Logistikseite zu einer Effizienzsteigerung von gut 40 % über alles, d. h. wir können mit dem gleichen Team wesentlich schneller und effizienter die Leistungen erbringen, um unsere Kunden zeitnah zu beliefern. Im Büro lassen sich Effizienzsteigerungen kaum messen, aber durch die neue New-Work-Arbeitswelt ohne Einzelbüros hat sich die Zusammenarbeit deutlich verbessert.

 

Wir hoch waren die Investitionskosten?

P.W.G.: Die lagen im einstelligen Millionenbereich. Die Investitionen sind zum einen Investitionen in die Zukunft, aber sie stehen auch für die Philosophie unseres Unternehmens, denn wir sind wie ein guter Imker, der seinem Bienenvolk noch genügend Honig lässt. Die Firma besitzt eine gute Substanz, das Investment konnten wir aus eigener Kraft stemmen. Das war wichtig, aber es zeigt in gewisser Weise, wie konservativ wir mitunter unterwegs sind.

 

Wie schwierig war es, diesen Standort zu finden?

P.W.G.: Es war ein Kraftakt. Wir haben 27 Standorte unter die Lupe genommen, wollten sogar bauen, aber die Schweiz entwickelt sich leider immer mehr zu einem administrativen und bürokratischen Koloss. Wir nähern uns mit großen Schritten den nicht so weit weg liegenden Ländern in der EU an. Dass Wirtschaft etwas ist, das nicht gut ist, diese Haltung manifestiert sich auch hier, obwohl wir nur von der Wirtschaft leben und nicht vom Staat. Wir müssen da gegensteuern, aber es auch vorleben.

 

Was sind die Vorteile dieses Standortes, von dem Ihre Frau gesagt hat, Brunnen sei ein No-go, während wir beim Rundgang den Eindruck gewinnen konnten, es ist ein Glücksfall?

P.W.G.: Zunächst einmal ist es die zentrale Lage. Wir liegen im Herzen der Schweiz. Die Verkehrsanbindung, vor allem die Anbindung ans Schienennetz, ist exzellent. Wir haben einen direkten Gleisanschluss an unser Lager. Aus meiner Sicht ist das ein strategischer Erfolgsfaktor. Zwar wissen wir nicht, wie sich die Logistik in der Zukunft entwickelt, aber sicher ist, dass die Schiene wieder eine ganz große Bedeutung erhalten wird. Und natürlich können wir hier wachsen, was wir am alten Standort gar nicht mehr konnten.

 

Das Personal spielte beim Umzug mit?

P.W.G.: Rund 70 % des Personals hat sich anders entschieden, aber wir haben schnell in der Region neue Mitarbeiter gefunden, denn wir gelten als attraktiver Arbeitgeber. Es gibt nicht viele Industriebetriebe rund um Brunnen, die solche Jobs wie wir anbieten, sei es in der Grafik, im E-Commerce, im Verlagswesen oder Produktmanagement. Es gibt zwar noch ein paar Vakanzen, aber die sind mehr von strategischer Natur. Carletto ist jedenfalls vollumfänglich auf Kurs, die Transformation des Wissens gut fortgeschritten.

 

Der Umzug war sicherlich ein logistischer Kraftakt, oder?

P.W.G.: Wir sind mit sehr viel Respekt an die Aufgabe herangegangen und haben so viel wie möglich geplant, auch wenn man vieles nicht planen kann. Der physische Umzug zwischen Weihnachten und Neujahr hat am Ende hervorragend geklappt. Alles in allem hat sich das Ganze über 18 Monate hingezogen, von der Vorbereitung und Planung über den gesamten Einbau bis zum Umzug. Und das alles im laufenden Betrieb. Was bietet der neue Standort an Zahlen?
P.W.G.: Das Hochregallager verfügt über eine Kapazität von 11.000 Paletten, die auf 2.000 m² sehr komprimiert lagern. Das sind etwa 50.000 Kubik oder etwa 50 Einfamilienhäuser. Das Hochregallager wird vollumfänglich mit Robotik gesteuert, d. h., die Algorithmen verräumen die Ware und die Software gibt dem Hochregallager den Auftrag, welche Ware gerade gepickt werden muss. Zudem arbeiten wir mit einem Hybridsystem aus manueller und technologisch gesteuerter Logistik, was uns ausreichend Flexibilität gibt. Hinzu kommen 6.000 m² manueller Logistikfläche. Administration und die drei Showrooms kommen auf 1.600 m².

 

Nach knapp sechs Monaten, ist Peter Gygax schon in Brunnen angekommen, wo man eher einen Zauberberg erwartet als 70 Mitarbeiter, die sich um Spielwaren kümmern?

P.W.G.: Ich finde es hier sensationell. Endlich haben wir wieder tagtäglich mit Produkten zu tun. In Wädenswil waren Logistik und Verwaltung über 20 Jahre getrennt, was das Risiko birgt, das Gefühl für die Ware und die Prozesse zu verlieren. In Brunnen können wir die Prozesse viel besser steuern. Alle sitzen unter einem Dach. Das ist ein ganz neues Lebensgefühl.
Herr Gygax, wir bedanken uns für das Gespräch.