Die TikTok-Falle: Wie KI den Spielwarenmarkt manipuliert
Was Kinder heute wollen, entscheidet längst nicht mehr das Spiel – sondern der Algorithmus. Die Spielwarenindustrie steht an einem Kipppunkt: Wer TikTok nur als Marketingkanal versteht, hat schon verloren. Denn dort ist KI längst der Produktchef.
Von Patricia Winkler

Der neue Taktgeber:
TikToks Recommendation Engine
Ob Lama-Sticker oder Blobfisch-Stofftier – virale Spielzeuge wirken, als kämen sie direkt aus dem Kinderzimmer. Doch ihr Ursprung liegt tiefer – in der Plattformstruktur selbst. TikTok analysiert in Sekunden, wie Nutzer mit Videos interagieren: Watchtime, Likes, Shares, Kommentare oder sofortiges Weiterscrollen. Der Algorithmus erkennt mithilfe von KI typische Muster – populäre Sounds, Hashtags, visuelle Stile, Bewegungen. Inhalte mit frühem Engagement werden verstärkt ausgespielt und erzielen schnell große Reichweite. TikTok entscheidet so, welche Produkte sichtbar werden – und damit, was gekauft wird.
KI als Verstärker
Beispiel Squishmallows: Die plüschigen Figuren zeigen, wie Social Media nicht nur Aufmerksamkeit erzeugt, sondern Nachfrage automatisiert verstärkt. Laut Business Insider basiert der Erfolg weniger auf klassischem Marketing als auf der Eigendynamik des TikTok-Algorithmus. KI erkennt: weiche Texturen + Babyfarben + ASMR-Stimme = hohe Watchtime. Squishmallows wurden zur viralen Produktlinie mit über 5,7 Mio. Likes und über 600.000 Followern. Neue Kollektionen wie der Squishmallows Day oder die 2025 Valentines-Serie werden regelmäßig gefeatured. Auch Lego nutzt Social Media erfolgreich. Auf TikTok wird etwa der „Let’s Make a LEGO Pumpkin Spice Latte“ zum Miniaturgetränk – und reiht sich unterhaltsam zwischen Food, Fashion und Fun ein.
Weitere Marken wie Playmobil (Instagram), Märklin (Facebook) oder Ravensburger (TikTok) erzielen ebenfalls Erfolge. Ravensburger etwa hat eine kleine, aber sehr engagierte Community (ca. 38.000 Follower, 564.000 Likes). Formate wie Puzzle-Videos und Behind-the-Scenes kommen gut an.
Was dabei verloren geht:
Kindgerechtheit oder Klickquote?
Was gut läuft, muss nicht gut sein. TikTok belohnt Extreme: grelle Farben, überzogene Reaktionen, vereinfachte Inhalte – alles, was schnelle Reize setzt. Studien zeigen: Die ständigen „dopamine hits“ machen süchtig. Diese Mechanismen wirken direkt auf die Produktentwicklung. Spielzeuge werden zunehmend darauf ausgelegt, viral zu gehen – nicht, um zu fördern. Der Markt reagiert nicht mehr auf pädagogische Bedürfnisse, sondern auf algorithmische Datenmuster. TikTok erzeugt einen Klickreiz-Wettbewerb, der kindgerechte Inhalte verdrängen könnte. Und so entstehen Kinderwelten, die weniger mit Bildung, dafür mehr mit Reizüberflutung zu tun haben. KI kann Spielzeug erfolgreich machen – aber auch beliebig. Wer ihre Logiken kennt, kann sie nutzen. Wer sich ihr unterwirft, wird austauschbar. Der Algorithmus ist ein mächtiger Sparringspartner – aber kein Kompass. Es braucht eine Instanz, die entscheidet, was kindgerecht ist – und nicht nur klickstark. Diese Verantwortung kann keine KI übernehmen. Aber die Spielwarenbranche schon.
Was jetzt zu tun ist
TikTok verstehen lernen – jenseits der Oberfläche
Wer Produkte auf TikTok spielt, muss die KI-Strukturen dahinter verstehen: Welche Parameter machen Clips sichtbar? (Watchtime, Re-Engagement, Sound-Viralität)
Zwischen Reizmechanik & Relevanz unterscheiden
Nicht jeder virale Trend verdient ein Produkt. Mit Tools wie BuzzSumo lassen sich Kurzzeitphänomene von nachhaltigen Themen trennen – etwa durch Analyse von Verweildauer und Diskussionsintensität über Zeit.
Redaktionshoheit nicht der Maschine überlassen
Industrie und Handel brauchen wieder inhaltliche Kriterien, nicht nur Performancewerte. Eigene KI-gestützte Checklisten einführen (z. B. für Förderung, Vielfalt, Lerneffekt), Content nicht nur auf „Was geht viral?“ prüfen, sondern auf: Was bleibt hängen – und wozu? Beispiel-Vorlage für eigene Redaktionsfilter: „Entspricht das Produkt einem TikTok-Trend – oder hat es einen Wert, der unabhängig von Reizmustern besteht?“

Patricia Winkler
CEO von aivory, unterstützt Unternehmen mit dem „KI-Führerschein“ und Coachings bei der nachhaltigen Integration von KI. Mehr unter:
aivory.club