Versäumte Lektionen
Der Nimbus von Innenstädten als Standorte attraktiver Handelskonzepte bröckelt. Dies begann in Großstädten wie Frankfurt schon vor Jahrzehnten. Die Möglichkeiten, rechtzeitig gegenzusteuern, wurden nur unzureichend genutzt.

An Analysen und Vorschlägen zur Wiedergewinnung der Attraktivität deutscher Innenstädte herrscht seit vielen Jahren kein Mangel. Oft genug entstehen solche Ausarbeitungen vornehmlich getrieben von temporärem Aktionismus, ausgelöst durch irgendeinen aktuellen Anlass wie etwa der Schließung eines alteingesessenen Modehauses oder der Filiale eines internationalen Handelskonzerns. Oder weil die Leerstände immer offensichtlicher werden. Letztere sind auf der Frankfurter Zeil, einst eine der Vorzeige-Einkaufsstraßen dieser Republik, besonders auffällig. Bei der Diskussion über die Ursachen des nicht nur auf der Zeil zu beobachtenden Niedergangs einst florierender städtischer Mittelpunkte wird meistens auf Veränderungen der Handelslandschaft hingewiesen, auf die Kommunen kaum Einfluss nehmen könnten. Gerne wird auf die starke Konkurrenz durch Online-Anbieter oder von Einkaufszentren außerhalb der Stadtgrenzen verwiesen.
Kommunale Verantwortung
Wie entscheidend Erreichbarkeit und insbesondere Aufenthaltsqualität für die Besucherfrequenz von Fußgängerzonen sind, wird von den kommunalen Entscheidern allerdings nicht so gerne thematisiert. Denn hier geht es um den ureigensten Verantwortungsbereich der städtischen Selbstverwaltung. Und da hapert es gewaltig, denn dieser Verantwortung werden viele Städte nicht gerecht. Eine kleine Zeitreise am Beispiel von Frankfurt erlaubt interessante Einblicke in jahrzehntelange Versäumnisse.
Wegen der Erkenntnis, dass es notwendig ist, sich der Thematik schwindender Attraktivität der Zeil mit einer gewissen Systematik anzunehmen, gibt es derzeit in Frankfurt immerhin ein bemerkenswertes Kooperationsprojekt. In ihm haben sich die Wirtschaftsförderung der Stadt und die Frankfurt University of Applied Sciences zusammengefunden. Das Projekt ist fachbereichsübergreifend auf die Dauer von fünf Semestern angelegt und trägt den Titel: Frankfurt Innenstadt 3.0 – Die neue Zeil: Symbiose aus stationärem Handel und Metaverse.
Frankfurter Kooperationsprojekt
Die Befristung auf die überschaubare Zahl von Semestern ist dem Umstand geschuldet, dass es sich hier um die universitäre Begleitung des zeitlich begrenzten aktuellen Vorhabens der Stadt handelt, die Zeil zu revitalisieren. In jedem Semester fertigen deshalb die Studierenden Projektarbeiten zu vorgegebenen Themen an. Deren Ergebnisse werden dann den Verantwortlichen der Wirtschaftsförderung präsentiert. Bei der Veranstaltung im März 2025 waren auch interessierte Einzelhändler, Immobilienexperten und Medien dabei. Eine der studentischen Projektgruppen stellte die Ergebnisse einer qualitativen Befragung über die „Wahrnehmung der GenZ zur Frankfurter Zeil“ vor. Quintessenz: Von jungen Menschen wird die Zeil nicht als sozialer, sondern als funktionaler Ort empfunden. Besorgungen werden erledigt, mehr aber auch nicht. Besuche erfolgen also nach der Devise: Hin und zügig wieder weg. Als Gründe wurden unter anderem mangelnde Sauberkeit oder die offene Drogenszene genannt. Darunter leide insgesamt das Sicherheitsgefühl. Als wenig attraktiv wurde die Angebotsstruktur bewertet. Dominiert werde die Zeil von Filialunternehmen, die es auch in vergleichbaren Fußgängerzonen anderer Städte gebe. Vermisst werden deshalb Händler aus Frankfurt oder dem Rhein-Main-Gebiet, die der Zeil Unverwechselbarkeit und regionale Identität verleihen.
Hoher Filialisierungsgrad
Das war vor einem Vierteljahrhundert noch anders, auch wenn das zunehmend in Vergessenheit gerät. Da gab es auf der Zeil und angrenzenden Straßen noch viele mittelständische Händler und Kaufleute mit klarem regionalem Bezug. Ob Bäckereien, Metzgereien, Konditoreien, Cafés: Viele von ihnen waren, mitunter schon viele Generationen, in Familienbesitz. Auf der Zeil gab es das Kaufhaus M. Schneider, dessen Werbeslogan „Ihr Ziel auf der Zeil“ überregional bekannt war. Die Erinnerung daran ist weitgehend verblasst, denn 1998 musste die beliebte Einkaufsstätte für immer die Pforten schließen. Für die heute vermisste Identität in der Frankfurter Innenstadt sorgte damals auch das jahrzehntelang inhabergeführte Textilhaus Ammerschläger. Anfang 2002 ging diese Firmentradition ebenfalls mit der Schließung zu Ende, nachdem Carola Ammerschläger, Witwe des Firmengründers, nach vergeblicher Nachfolgesuche die Immobilie verkauft hatte. Ein ähnliches Schicksal erlitten viele kleine Mittelständler, oft auch deshalb, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten, wenn Konzerne im Rahmen ihrer Expansionsstrategie den Vermietern für dringend benötigte Standorte in Frankfurt Angebote machten, die diese nicht ausschlagen wollten.
Mangelnde Aufenthaltsqualität
Dass die Zeil ihr Gesicht verändert und an Unverwechselbarkeit einbüßt, wie es ja auch in der aktuellen Projektarbeit der Frankfurter Studierenden beklagt wird, war vor einem Vierteljahrhundert schon Thema. In der renommierten Fachzeitschrift „Textilwirtschaft“ (TW) war im Januar 2002 im Zusammenhang mit dem Ende von Ammerschläger zu lesen, dass der Filialisierungsgrad auf der Zeil laut Immobilien-Fachleuten damals schon nahezu 90 Prozent erreicht hatte. Experten warnten deshalb laut TW davor, „dass die Zeil zu einer verwechselbaren Fußgängerzone wird“. Offensichtlich ist diese Warnung von den Verantwortlichen der Stadt und der Immobilienbranche nur zur Kenntnis genommen worden, getan hat sich in den zurückliegenden fast 25 Jahren nichts. Genauso wenig ist beim Thema Aufenthaltsqualität auf der Zeil geschehen. Ansonsten hätte es bei jungen Leuten laut der aktuellen Projektarbeit des Jahres 2025 nicht die oben zitierten negativen Einschätzungen über die Zeil gegeben. Das Ausmaß jahrzehntelanger Versäumnisse der Stadtpolitik wird bei einem erneuten Blick in die Ausgabe der TW von Anfang 2002 deutlich.
Weitgehende Tatenlosigkeit
Zwar sei die Zeil eine der frequenzstärksten Einkaufsstraßen in Deutschland. Es mangele nach Einschätzung von Fachleuten aber an der Verweildauer und der Kaufkraft der Besucher. „Viele Passanten, aber wenig Kunden“, wird in dem Bericht ein Center-Manager zitiert. Die Probleme der Zeil wurden in der TW, Heft 5/2002, Seite 90, aufgezählt:
- Es fehlt an Beleuchtung.
- Die Zeil gilt als unsicher. Trotz aller Maßnahmen tummeln sich dort Dealer, Drogensüchtige und Obdachlose.
- Die Zeil zählt nicht zu den saubersten Einkaufsstraßen.
- Die Zeil verfügt fast nur noch über standardisierte Anbieter. Mittelständische Unternehmen sind so gut wie verschwunden. Das liegt unter anderem an den astronomischen Mieten.
- Die Zeil braucht eine attraktive Gastronomie, um die Verweildauer zu erhöhen.
Soweit die TW aus dem Jahr 2002. Im Jahr 2025 kommen die Studierenden bei ihrer Befragung unter jungen Leuten zu nahezu identischen Einschätzungen. Experten, die den gesamten Zeitraum überblicken, bestätigen auf Anfrage einen beunruhigenden Befund: Wo es in ihrer Macht gestanden hätte, sei es der Stadtverwaltung von Frankfurt während eines Vierteljahrhunderts nicht gelungen, nachhaltige Veränderungen und vor allem Verbesserungen auf der Zeil zu verwirklichen. Das sei kein Einzelbefund, heißt es bei Insidern. Frankfurt sei nur ein besonders bemerkenswertes Beispiel für die Versäumnisse, die es seit Jahrzehnten erschwerten, Fußgängerzonen als attraktive Standorte zum Einkaufen, Bummeln und Verweilen zu erhalten.